„Wir müssen mehr übereinander wissen“ – Ganztag und Erziehungshilfe im Dialog
Vertreter*innen aus Schule, Betreuung, Träger der Erziehungshilfe und Verwaltung tauschten sich in einem Expert*innen-Gespräch über die Frage aus, wie die ambulanten Hilfen zur Erziehung im Ganztag berücksichtigt werden können. Und stellten dabei fest: eigentlich wissen wir noch viel zu wenig übereinander.
Es war bereits das zweite Expert*innen-Gespräch „Einbindung der ambulanten Hilfen der Erziehung in den Ganztag“, das am 22. September 2022 stattfand. Initiiert wurde das Format durch das Jugend- und Sozialamt, das im Rahmen der Pilotierung des Gesamtkonzeptes Ganztag die Federführung für die gleichnamige Maßnahme hat.
Hilfen zur Erziehung sind spezifische einzelfallbezogene Hilfen. Diese stehen den Personensorgeberechtigten eines Kindes als Sozialleistung nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz zu, wenn eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Ziel der Gesprächs-Reihe ist es, die Rahmenbedingungen für eine bessere Verzahnung von Ganztag und Erziehungshilfe herauszuarbeiten: Wie muss die Kooperation gestaltet sein, damit sie dem Kind nützt? Und welche Voraussetzungen braucht es dafür?
Gleich zu Beginn der Gesprächs-Reihe stellten die rund 22 Teilnehmenden fest, dass es dafür zunächst einen Austausch über die jeweiligen Systeme braucht:
„Wir müssen mehr übereinander wissen, über die jeweils originären Aufgaben der beiden Systeme und die Begrenzungen der
Aufgabenbereiche. Und darüber, wo wir uns gut ergänzen.“
Das Verständnis für die jeweils andere Seite, für Blickwinkel und Standpunkte, sei eine wichtige Grundvoraussetzung für gelingende Zusammenarbeit. Aus diesem Grund stellten sich die Teilnehmenden ihre jeweiligen Systeme gegenseitig vor und gaben Einblicke in ihre Arbeitsweisen.
Während im ersten Expert*innen-Workshop am 02.05.2022 im Jugend- und Sozialamt die Träger der ambulanten Erziehungshilfe konkrete Beispiele aus ihrem Arbeitsalltag vorstellten, beleuchteten die Leitungstandems aus der Willemerschule und der Marie-Curie-Schule das System schulischer Ganztag im zweiten Expert*innen-Gespräch, das in der Marie-Curie-Schule am Riedberg stattfand.
Deutlich wurde, dass für die Kooperation mit dem schulischen Ganztag vor allem die Sozialpädagogische Lernhilfe (§27,2 SGB VIII), der Erziehungsbeistand (§30 SGB VIII) und die Sozialpädagogische Familienhilfe (§31 SGB VIII) in Betracht kommen.
Für die Kinder mehr Synergien schaffen
Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Verständnis wurde sichtbar, dass beide Systeme das Kind in den Mittelpunkt stellen und das gleiche Ziel verfolgen: die individuelle Förderung des Kindes. Dennoch arbeiten Akteure*innen aus der ambulanten Erziehungshilfe und dem schulischen Ganztag häufig nebeneinander her und sind in ihrer Arbeit nicht gut aufeinander abgestimmt. Es fehlen gemeinsame Fenster für Austausch- und Kooperation. „Die Knackpunkte liegen in den Absprachen und in der Koordination“ stellt Schulleiterin Silke Krämer von der Willemerschule fest. Dies bekräftigten weitere Expert*innen aus dem Kreis der Teilnehmenden.
Bezogen auf die von Trägern der Erziehungshilfe geäußerte Befürchtung, der Ganztag schmälere die Zeitfenster, in denen ein Kind eine ambulante Hilfe zur Erziehung in Anspruch nehmen könne, geben die beiden Schulleiterinnen Entwarnung:
„Es gibt viele Zeitmöglichkeiten, wo man die ambulanten Hilfen abbilden kann, sowohl in der Schule als auch außerhalb der Schule.
Die Bereitschaft und Flexibilität der Schulen sind sehr hoch.“
Es sei im originären Interesse von Schule, die Arbeit von ambulanten Hilfen zur Erziehung zu ermöglichen. Wichtig sei, den Austausch zu verbessern und für die Kinder Stigmatisierungen zu vermeiden. Denn für die betroffenen Kinder bedeutet einen in den Ganztagsalltag integrierte Hilfe, dass es nicht im negativen Sinne herausgehoben wird.
Durch den fachlichen Austausch in den beiden Expert*innen-Gesprächen wurde mehr und mehr klar, wie wichtig und längst überfällig dieser Dialog zwischen den beiden Bereichen ist. Hürden wurden identifiziert, fachliche Perspektiven abgeglichen, offen und lebendig diskutiert. Abschließend betonten die Expert*innen-Runde: es sei ein guter Anfang, aber längst nicht seien alle Fragen geklärt. Das Expert*innen-Gespräch wird daher im Frühjahr 2023 ein drittes Mal stattfinden.